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Corona und die Hilflosigkeit

Viele Verhaltensweisen von Menschen in diesen Tagen kommen mir aus der Trauerbegleitung sehr bekannt vor.

Das hat aus meiner Sicht vor allem mit der Hilflosigkeit, die die meisten (oder alle) in diesen Tagen empfinden, zu tun. Wir fühlen uns ausgeliefert und machtlos, irgendetwas Sinnvolles gegen dieses Virus zu tun. Und wir sind es auch. Keiner von uns hat einen Impfstoff oder ein Medikament dagegen, niemand kann sich sicher sein, dass er sich nicht auch ansteckt und dass dies unter Umständen schlimme Folgen hat. Und keiner von uns hat Erfahrung damit, niemand hat so etwas jemals zuvor erlebt.

So ist es oft auch in der Trauer. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, sind wir hilf- und machtlos. Wir konnten es nicht verhindern. Und wir haben kein Mittel gegen den Tod. Und Trauer kann man nicht theoretisch üben, sie gilt es Schritt für Schritt zu durchleben.

Kein Mensch trauert wie ein anderer. Auch wenn immer wieder die verschiedenen Trauerphasen zitiert werden. Dabei geht es um verschiedene Reaktionen auf den Auslöser unserer Trauer: Nicht-wahrhaben-wollen, Rückzug und Depression, Aggression, Hyperaktivität, und vieles mehr.

Interessant ist ja, dass Trauer sehr viele Ursachen haben kann. Eben nicht nur den Tod eines geliebten Menschen. Sondern auch Trennung, Umzug, neuer Arbeitsplatz, Kinderlosigkeit, Eintritt in den Ruhestand, Älterwerden, Wegzug eines Freundes usw. Und jetzt noch Corona.

Unsere bisherige Welt hat sich verändert, sie ist nicht mehr, wie sie wahr. Das Vertraute fällt weg. Die Zukunft ist ungewiss. Wie soll das nur alles werden? Was kommt auf mich zu? Wie soll ich jemals damit fertig werden?

Die einen ziehen sich dann zurück. „Mein Leben kann sowieso nie mehr schön werden!“ Ich zieh mir die Decke über den Kopf und warte darauf, dass es wieder so wird, wie früher. Manche schauen sich ständig alte Fotoalben an und träumen von der guten alten Zeit.
Die anderen werden hyperaktiv. Das kann doch nicht sein, dass wir da nichts tun können. Da werden plötzlich unglaubliche Kräfte frei. Manchmal auch, damit man nicht nachdenken muss, damit man beschäftigt bleibt und sich nicht dem Schmerz und der Trauer stellen muss.
Wieder andere kaufen ganze Läden leer. Weil sie dann den Eindruck haben, dass sie wieder die Kontrolle haben. Aber bitte, warum ausgerechnet Klopapier? Geht’s denen wirklich so beschissen? Warum nicht Rotwein, wie die Franzosen? Manche haben sich dabei wohl zu viel Alufolie gekauft und sich daraus Hüte gebastelt. Jetzt wissen sie genau, wo dieses Virus herkommt und warum es sich so verbreitet.

Ideal ist es, wenn man in diesen Zeiten Leute zur Seite hat, bei denen man sein darf und die einen aushalten (auch wenn sie äußerlich 1,5 m Abstand halten sollten). Und die mich gleichzeitig am Leben festhalten und mit mir gemeinsam weiter gehen. Das ist sicherlich auch das Besondere in dieser Corona-Zeit. Plötzlich gibt es eine unglaubliche Solidarität. Wildfremde Menschen helfen einander, ohne dafür etwas zu verlangen. Ohne Gegenleistung. Einfach, weil es gut tut. Und weil manche gerade nicht vor die Tür können und dürfen. Oder sich nicht mehr raustrauen. Ich höre sehr wenig von „Die sollen sich nicht so anstellen, anderen geht’s auch schlecht. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“-Blablabla. Viele lassen Retttungskräfte und medizinische Mitarbeiter kostenlos bei sich einkaufen. Wie wunderbar.

Und das macht mir Hoffnung. Weil wir den anderen sein lassen und akzeptieren, wie er ist. Das würde ich mir für Trauernde auch wünschen. Diese hören sich nämlich leider noch zu oft die wildesten „Rat-SCHLÄGE“ an. Stattdessen könnte man doch einfach helfen. Oder zumindest fragen, wie man helfen kann. Und wenn beides nicht geht, den Mund halten und da sein.

Viele Menschen haben in diesen Tagen Angst. Vor einer Ansteckung, was mit den älteren Verwandten geschieht, ob der Arbeitsplatz erhalten bleibt, ob es irgendwann mal wieder Klopapier zu kaufen gibt. Diese Angst gilt es zunächst mal ernst zu nehmen. Oder auf jeden Fall sollte man den ernst nehmen, der die Angst hat. Wenn jemand Flugangst hat, bringt es ihm auch nicht so viel, wenn ich ihm sage, dass Fliegen statistisch die ungefährlichste Art ist, von A nach B zu kommen (mal abgesehen davon, dass man zur Zeit nicht fliegen darf…).

Ja, wir können manches nicht kontrollieren. Und wenn, dann nur bedingt. Noch nie war es so einfach wie in diesen Tagen, Leben zu retten. Nämlich, indem man Zuhause auf dem Sofa bleibt. Aber trotzdem haben wir die Situation nicht im Griff. Genausowenig, wie wir verhindern können, dass wir eines Tages (der hoffentlich in ferner Zukunft liegt!) sterben müssen.

Was mache ich dann mit meiner Angst? Der Angst vor der Zukunft, vor dem Ungewissen, vor dem, was noch alles kommen könnte, dem Tod? Silbermond singt: „Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit in einer Zeit in der nichts sicher scheint!“ Nie war dieser Text so aktuell wie heute. Was gibt dir Halt? Worauf kannst du dich verlassen? Wer reicht dir seine Hand, damit ihr miteinander durch die Herausforderungen des Lebens stolpern könnt?

Ich erinnere mich in diesen Tagen immer wieder an eine Aussage aus dem Alten Testament. Spannende Situation. Da war eine Großfamilie 40 Tage in Quarantäne. Nur Viecher um sich herum, ganz alleine auf einem Kutter auf dem Wasser. Der Kutter ist heute bekannt als Arche Noah. Und danach, als sie wieder raus können und die Freiheit genießen, sagt Gott zu ihnen: „Niemals, so lange die Erde besteht, werden Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht aufhören.“ (1. Mose 8,22, Einheitsübersetzung).

Mir hilft das, mir gibt das Halt. Weil zum einen deutlich wird, dass es weiter geht. Dass nach der Nacht auch wieder der Tag kommt, dass nach dem Winter auch wieder ein Sommer zu erwarten ist (Blumen und Blüten, Vogelstimmen und das viele Grün tun zur Zeit sehr gut). Und dass es einen gibt, der die Welt nicht nur gemacht hat, sondern auch weiter in Händen hält.

Und es erinnert mich daran, dass das Leben immer ein „sowohl – als auch“ ist. Manchmal erlebt man mitten in der Krise Schönes, so wie in diesen Tagen. Das Leben ist eben nicht „entweder – oder“, nur schlecht oder nur schön. Sondern ganz oft von Beidem etwas. Auf was wollen wir uns konzentrieren? Schwierig wird’s, wenn wir nur das eine sehen.

Deshalb wünsche ich uns, dass wir zuversichtlich und Zuhause bleiben. Und Halt finden, auch wenn wir nicht die Kontrolle haben.